Weniger Lebenslauf, mehr Mensch: Recruiting Mythen unter der Lupe
Viele Unternehmen glauben, dass Top-Universitätsabschlüsse, jahrelange Branchenerfahrung oder ein charismatisches Auftreten automatisch gute Kandidaten garantieren. Doch diese Annahmen führen oft in die Irre. In dieser Folge von „von HR für HR“ spricht Lesley mit Recruiting-Expertin Sonia. Sie verrät, welche Mythen im Recruiting immer wieder auftauchen und wie man stattdessen die wahren Talente erkennt.

1. Der Lebenslauf-Mythos
Viele Unternehmen orientieren sich noch immer an vermeintlichen Qualitätssignalen im Lebenslauf. Ein erster weit verbreiteter Mythos im Recruiting ist daher, dass ein Abschluss an einer Top- oder Exzellenz-Uni automatisch auf einen Top-Performer hindeutet. Sonia sieht das kritisch.
Denn gerade bei Start-ups und Scale-ups führt dieses Denken in die Irre: In diesen Unternehmen zählen vor allem Drive, Hands-on-Mentalität und die Fähigkeit, proaktiv zu lernen und Probleme zu lösen. Eigenschaften, die ein Uni-Abschluss nicht automatisch zeigt, wo man das Wissen “so ein bisschen auf dem Silbertablett bekommt”, erklärt Sonia.
Noten oder Uni-Abschluss sagen am Ende nichts über die Person aus.
Hinzu kommt, dass auf der anderen Seite die Absolventen von Spitzenuniversitäten oft auch aus Ihrer Sicht andere Jobprofile, Chancen, Gehaltswünsche und Netzwerke suchen und daher auch nicht immer zu den Anforderungen eines dynamischen Teams passen.
Dennoch gilt: Für Einsteigerpositionen kann der Uni-Abschluss ein nützlicher Indikator sein, weil er zeigt, dass jemand ein längeres Ziel durchgehalten und komplexe Aufgaben gemeistert hat. Um die tatsächlichen Fähigkeiten und die Selbstreflexion einer Kandidatin zu bewerten, empfiehlt Sonia, gezielt nach konkreten Situationen zu fragen:
- Welche komplexen Themen hast du schnell lernen müssen?
- Welches Ziel hast du intensiv verfolgt?
Dabei dürfen auch ruhig private Erfahrungen oder Sportprojekte mit einfließen, denn so erkennt man, ob jemand wirklich die notwendige Motivation und Lernbereitschaft mitbringt.
2. Warum Industrieerfahrung nicht alles ist
Ein weiterer Mythos, der immer wieder auftaucht, betrifft die Industrieerfahrung. Viele Unternehmen gehen automatisch davon aus, dass Kandidaten genau in derselben Branche gearbeitet haben müssen, um für die ausgeschriebene Stelle gut geeignet zu sein.
Dabei übersehen sie oft, dass viele Fähigkeiten übertragbar sind, sogenannte Transferable Skills. Sonia weiß aus ihrer Erfahrung heraus, dass Menschen sich erstaunlich schnell in neue Themen einarbeiten können. Für sie ist daher viel wichtiger im Bewerbungsprozess zu erkennen
- wie gut jemand sich einarbeitet
- wie neugierig er ist und
- wie sehr er sich im Vorfeld mit der neuen Branche auseinandersetzt.
Wer nur auf direkte Industrieerfahrung achtet, verengt den Talentpool enorm und übersieht gleichzeitig die Chance, engagierte Kandidaten zu gewinnen, die frischen Input und neue Perspektiven mitbringen.
Das führt direkt zum nächsten Punkt beim Thema Erfahrung: Die tatsächlichen Jahre an Praxiserfahrung bedeuten nicht automatisch Seniorität. Früher galten ein bis drei Jahre als Junior, drei bis fünf Jahre als Mid-Level, alles darüber als Senior. Doch wer in einem kleinen Team schnell Verantwortung übernimmt, lernt oft mehr in kurzer Zeit als jemand, der in einem großen Unternehmen lange „mitgeflogen“ ist.
Daher lohnt es sich, genau hinzuschauen, wie Kandidatinnen und Kandidaten Verantwortung übernehmen und welche Erfolge sie wirklich erzielt haben, statt sich nur auf die Zeit im Lebenslauf zu verlassen.
3. Charisma gleich hohe Performance?
Ein Denken, zu dem sich viele im Jobinterview hinreißen lassen: Ein charismatisches Auftreten ist ein verlässlicher Indikator für spätere Performance. Tatsächlich ist das aber ein Mythos, der oft zu Fehleinschätzungen führt. Wichtig ist laut Sonia, den Fokus dagegen auf die fachlichen Fähigkeiten zu legen, sich nicht durch die Ausstrahlung ablenken zu lassen. Denn Charisma alleine sagt nichts über die tatsächliche Leistungsfähigkeit aus.
Introvertierte oder ruhigere Persönlichkeiten können genauso wertvoll sein, insbesondere wenn sie gut zu Produkt, Kunden und Sales-Prozess passen. Diverse Teams profitieren zudem von unterschiedlichen Persönlichkeitstypen, und erfolgreiche Sales-Strategien hängen mehr von Fachwissen, Selbstmotivation und der Fähigkeit ab, sich in verschiedene Kundentypen hineinzuversetzen, als von der Ausstrahlung im Interview.
5 Tipps für Arbeitsproben, die wirklich etwas aussagen
- Gebt Bewerbenden Vorbereitungszeit, aber kein ganzes Projekt für die nächste Woche.
- Setzt Aufgaben ein, die wirklich zum Job passen.
- Nutzt Cases, die ihr selbst schon einmal gelöst habt, dann habt ihr eine echte Vergleichsbasis.
- Gebt während der Präsentation Feedback und beobachtet, wie gut jemand reflektiert.
- Wiederholt den Case nach dem Feedback und schaut, wie schnell jemand lernt.
4. Cultural Fit? Lieber Cultural Add
Klar, viele Unternehmen setzen beim Recruiting stark auf den klassischen Cultural Fit und suchen nach Kandidaten, die den bestehenden Teams möglichst ähnlich sind. Das führt jedoch oft zu homogenen Teams, in denen Innovation stagniert und neue Perspektiven fehlen. Stattdessen empfiehlt es sich, den Fokus auf den Cultural Add zu legen: Welche Fähigkeiten, Werte oder Sichtweisen bringt eine Person mit, die das Team insgesamt aufs nächste Level hebt?
Sucht nicht nach Menschen, die genauso sind wie ihr. Sucht nach Menschen, die euer Team ergänzen.
Der Cultural Add fördert Diversität, Innovation und Mut zu neuen Ansätzen. Dabei geht es nicht darum, die bestehende Kultur komplett zu verändern, sondern um einen gezielten Shift: Unterschiede werden als Chance gesehen, neue Blickwinkel einzubringen, die sowohl die Teamdynamik als auch das Produkt oder Angebot bereichern. Der Fokus liegt also weniger auf Ähnlichkeit, sondern auf komplementären Stärken und Perspektiven, die das Team kollektiv weiterbringen.
5. Der Einfluss von äußeren Faktoren
Äußere Faktoren wie professionellen Look oder ein gewisses Maß an Attraktivität beeinflussen, wie Bewerbende am Markt wahrgenommen werden, hat aber nur wenig mit fachlicher Kompetenz zu tun. Teilweise passiert das unbewusst, aber genau da gilt es anzusetzen und ein Bewusstsein für diesen Faktor zu schaffen.
Es gibt zwar Situationen, in denen ein gepflegtes Auftreten oder ein bestimmter Stil zum Umfeld passt, doch reiner „guter Look“ garantiert keine Leistung. Im Gegenteil: Zu stark auf Äußerlichkeiten zu achten kann fachlich starke Kandidaten ausschließen.
Um diesen Bias zu vermeiden, setzen viele Firmen zum Beispiel auf Bewerbungen ohne Fotos oder verlagern erste Gespräche vom Videocall auf persönliche Treffen, um den Fokus auf Fähigkeiten, Motivation und Persönlichkeit zu legen. Besonders in diversen Teams oder Branchen, die unterschiedliche Altersgruppen, Hintergründe und Rollen umfassen, zeigt sich, dass fachliche Eignung und Teamkompatibilität deutlich wichtiger sind als Aussehen.
6. Ist Job-Hopping eine Red Flag?
Viele denken, wer oft den Job wechselt, bleibt sowieso nicht lange - das ist laut Sonia aber zu kurz gedacht: “Entscheidend ist nicht die Anzahl der Stationen, sondern die Gründe dahinter und wie jemand damit umgeht," so Sonia.
Im Gespräch lohnt es sich daher, zu verstehen, was die Person aus den bisherigen Positionen mitgenommen hat und wie sie Verantwortung für ihre Entscheidungen übernimmt. Denn wer reflektiert über Wechsel spricht, zeigt oft mehr Eigeninitiative und Lernbereitschaft, als ein Lebenslauf auf den ersten Blick verrät. Job-Hopping muss also nicht automatisch eine Red Flag sein, der Kontext und das Gespräch geben den besten Einblick!
7. Keywords im Lebenslauf
Häufig heißt es, dass passende Keywords im Lebenslauf automatisch zeigen, wie gut jemand zum Unternehmen passt, aber auch das widerlegt Sonia mit Erfahrung aus der Praxis. Sie weiß aus Erfahrung, dass nur weil bestimmte Begriffe auftauchen, sagt das wenig über die tatsächlichen Fähigkeiten oder die Performance aus.
Viel wichtiger ist, den Kontext zu verstehen und die Fähigkeiten der Kandidaten einzuschätzen: Welche Kompetenzen bringen sie tatsächlich mit, welche Erfahrungen lassen sich übertragen? Ein gezielter Research vorab, strukturierte Scorecards und ein Interviewprozess mit klaren Fachfragen geben hier deutlich mehr Aufschluss als ein simples Keyword-Matching.
Fazit von Sonia: Recruiting menschlicher denken
Zum Ende des Gesprächs beschreibt Sonia einen Punkt, der ihr sehr am Herzen liegt: Der Abstand zwischen Bewerbenden und Unternehmen ist oft unnötig groß. Beide Seiten haben Erwartungen, die sie selten klar aussprechen. „Wir vergessen manchmal, dass auf beiden Seiten Menschen sitzen. Wir sind keine Lebenslaufmaschinen, wir bringen Stärken, Erfahrungen und manchmal auch Unsicherheiten mit. Wenn wir uns dafür öffnen, finden wir viel eher zueinander.“
4 Handlungsempfehlungen für ein gelungenes Recruiting
- Weniger auf Lebenslauf, Uni oder Industrieerfahrung fixieren, stattdessen Motivation, Lernbereitschaft und Transferable Skills prüfen.
- Cultural Fit hinterfragen und stattdessen nach Cultural Add suchen, um Teams diverser und innovativer zu machen.
- Fachliche Kompetenzen durch Cases, Arbeitsproben und strukturierte Interviews bewerten, nicht durch Charisma, Look oder Keywords.
- Job-Hopping und unterschiedliche Hintergründe nicht automatisch als Risiko sehen, sondern Gründe, Reflexion und Lernfähigkeit in den Vordergrund stellen.
Die ganze Folge “von HR für HR”

Durch Datenschutzeinstellungen blockiert
Basierend auf Ihren Datenschutzeinstellungen wird der Inhalt nicht geladen. Bitte bearbeiten Sie Ihre Datenschutzeinstellungen.
