Eignungsdiagnostik: Persönlichkeiten verstehen, Team-Fit verbessern
In dieser Folge „von HR für HR“ sprechen wir mit Boris Nebendahl von MPC Capital darüber, wie Eignungsdiagnostik Gespräche ehrlicher und Entscheidungen robuster macht. Richtig eingesetzt erhöht sie die Treffsicherheit von Besetzungen, vom Auszubildenden bis zur Geschäftsführung, ohne die individuelle Sicht auf den Menschen aus dem Blick zu verlieren.

Was Eignungsdiagnostik im Recruiting wirklich leistet
Vorab: Eignungsdiagnostik ist kein „Test“, den man besteht oder nicht besteht. Stattdessen ist damit eine strukturierte Vorgehensweise gemeint, die helfen soll, die Eignung einer Person für eine spezifische Aufgabe und in einem bestehenden Team einzuschätzen. In der Personaldiagnostik geht es dabei vor allem um stabile Persönlichkeitseigenschaften, grundlegende Motivationen, Einstellungen und Verhaltensneigungen – Merkmale also, die ab dem Erwachsenenalter weitgehend konstant bleiben.
Diese Eigenschaften werden in einem kurzen, standardisierten Verfahren erhoben und anschließend im Dialog mit der Kandidatin oder dem Kandidaten besprochen. Dabei soll es in keinem Fall darum gehen, Menschen in Schubladen zu stecken. Stattdessen lassen sich (meist) vier Dimensionen abbilden, über die sich die jeweiligen persönlichen Eigenschaften bzw. Ausprägungen der Kandidatinnen verteilen.
Und aus dieser grafischen Darstellung können HR-Manager dann Hypothesen über Arbeitspräferenzen, Kommunikationsstil oder Antrieb ableiten. Die entscheidende Arbeit beginnt danach: Das Profil wird mit dem Eindruck aus dem Erstgespräch abgeglichen, Widersprüche werden besprochen, Beispiele aus der Praxis werden erfragt. So entsteht ein Bild, das nicht nur treffender ist, sondern im Zweitgespräch auch auch eine Tiefe ermöglicht, die Standardinterviews kaum erreichen.
Warum Unternehmen davon profitieren: Qualität, Fairness, Team-Fit
Aus HR-Perspektive schafft Diagnostik vor allem eines: bessere Gesprächsqualität und verlässlichere Entscheidungen. Das Erstgespräch liefert einen ersten Eindruck. Die Diagnostik ergänzt diesen Eindruck um objektive Hinweise zu stabilen Eigenschaften. Im Zweitgespräch werden diese Hinweise gemeinsam interpretiert. Das hat mehrere Effekte:
- Bessere Prognosequalität: Das Bild der Person wird klarer – vor allem dort, wo Kandidatinnen sich mit Standardantworten auf typische Fragen vorbereiten.
- Strukturiertes Erwartungsmanagement: Führungskräfte verstehen früh, wie jemand „tickt“, und können Aufgaben, Onboarding und Teamkommunikation entsprechend gestalten.
- Bewusster Team-Fit: Unternehmen müssen Teams breit aufstellen – nicht nur „Alphatiere“, aber auch nicht nur „Folger“. Diagnostik hilft, diese Komplementarität gezielt zu entwickeln, ohne in Stereotype zu verfallen.
Die Erfahrung zeigt außerdem: Effizienz gewinnt, wenn Diagnostik zwischen erstem und zweitem Gespräch zum Einsatz kommt. Das beschränkt den Aufwand auf die Fälle, bei denen bereits beiderseitiges Interesse besteht – ein Plus für Datenschutz, Akzeptanz und Ressourcenplanung.
„Diagnostik ist kein Test, den man besteht oder nicht besteht – sie ist ein Dialoginstrument. Das Ergebnis ist der Startpunkt für ein besseres Gespräch, nicht das Ende der Entscheidung.“
Persönlichkeit und Rolle: Muster ja – Schubladen nein
Natürlich gibt es berufstypische Häufungen. In Finanzen, Controlling oder Buchhaltung zeigt sich beispielsweise häufig eine starke Formorientierung: die Neigung, sich an Regeln zu orientieren, präzise zu arbeiten und Standards konsequent einzuhalten. Bei Führungskräften ist die Dominanz- bzw. Einflussdimension in der Tendenz höher ausgeprägt als im Durchschnitt. Solche Muster sind hilfreich – wenn man sie als Orientierung versteht und nicht als Ausschlusskriterium.
Entscheidend ist die konkrete Ausgestaltung im Gespräch. Statt sich auf das Profil zu verlassen, empfiehlt Boris, Beispiele zu erfragen: „Erzählen Sie von einer Situation, in der Sie unter Zeitdruck Prioritäten gesetzt haben. Was genau haben Sie getan? Was hat es Ihnen leicht oder schwer gemacht?“ Ergänzend eignen sich Arbeitsproben oder Case Studies, um zu sehen, wie jemand ein Problem tatsächlich angeht – strukturiert, kreativ, kooperativ, beharrlich.
So integriert HR Diagnostik in den Auswahlprozess
Boris plädiert dafür, Diagnostik nach dem Erstgespräch einzusetzen. Das hat drei Gründe: Erstens gibt es bereits einen persönlichen Kontakt und damit ein Mindestmaß an Vertrauen. Zweitens lässt sich Aufwand vermeiden, falls nach dem Erstgespräch klar wird, dass es nicht passt – aus Sicht des Unternehmens oder der Kandidat*innen. Drittens sinkt die Hürde beim Thema Datenschutz, weil der Kontext klar ist.
Der Ablauf in der Praxis sieht so aus:
- Erstgespräch: persönlicher Eindruck, Klärung beiderseitigen Interesses, Abgleich mit dem Anforderungsprofil der Rolle.
- Diagnostik-Einladung: Kandidatinnen erhalten einen Link und beantworten einen kurzen Fragebogen zu Charaktereigenschaften (typischerweise rund 10 Minuten, individuell auch schneller oder langsamer).
- Auswertung & Abgleich: HR (und ggf. weitere Stakeholder) sichten die grafische Auswertung, gleichen sie mit Stellenprofil und Erstgespräch ab und bereiten Schwerpunkte für das Zweitgespräch vor.
- Zweitgespräch als Feedback-Dialog: Das Profil wird transparent erläutert, Rückfragen und Widerspruch sind ausdrücklich erwünscht. Relevante Hypothesen werden mit Praxisbeispielen vertieft, häufig ergänzt durch eine Arbeitsprobe (z. B. ein aktuelles Problem aus dem Fachbereich).
Wesentlich ist die Haltung im Zweitgespräch: nicht „wir wissen jetzt, wie Sie sind“, sondern „so beschreibt das Verfahren typische Tendenzen – wie erleben Sie sich selbst in konkreten Situationen?“. Diese Offenheit führt zu ehrlicheren, substantielleren Gesprächen und macht Unterschiede zwischen Selbstbild und Fremdbild besprechbar.
Team-Fit: Was messbar ist – und was im Gespräch bleibt
Diagnostik liefert messbare Hinweise auf stabile Präferenzen: etwa ob jemand eher struktur- oder menschenorientiert arbeitet, wie stark die Neigung zur Einflussnahme ist oder wie viel Energie soziale Interaktion kostet bzw. gibt. Diese Informationen helfen, Team-Fit bewusster zu gestalten. Sie ersetzen jedoch nicht die subjektiven Eindrücke aus den Gesprächen, die Qualität einer Arbeitsprobe oder die Resonanz mit künftigen Stakeholdern. Boris fasst es so zusammen: Diagnostik ist ein Puzzleteil – wichtig, aber niemals alleinentscheidend.
Candidate Experience: Erst Skepsis, dann häufig Wertschätzung
Viele Bewerbende reagieren zunächst zurückhaltend: Was wird erhoben? Wofür werden die Daten genutzt? Spätestens im Feedback-Gespräch wandelt sich diese Skepsis häufig in positive Überraschung. Die Gründe:
- Das Verfahren ist kurz und niedrigschwellig.
- Die Treffsicherheit der Beschreibung wird als hoch erlebt – positiv wie kritisch.
- Vor allem aber fühlen sich Kandidatinnen als Mensch gesehen: Es geht nicht nur um Zeugnisse und Titel, sondern um Arbeitsweise, Antrieb und Stressoren.
Wichtig ist eine klare Kommunikation: ruhige Umgebung, ehrlich antworten, keine „richtigen“ oder „falschen“ Merkmale, Ansprechpartner für Fragen – besonders dann, wenn Dienstleister in der Kommunikation involviert sind.
Datenschutz & verantwortungsvoller Umgang
Boris’ Praxis ist hier pragmatisch und vorsichtig: Erhebung erst nach dem Erstgespräch, Zweckbindung an die konkrete Rolle, keine starre Soll-Profil-Vergleichsmatrix, die Kandidatinnen durchfallen lässt. Nach dem Start gibt es keinen formalen Re-Abgleich des Profils. Sinnvoll ist es allerdings, das Profil später entwicklungsbegleitend zu nutzen – beispielsweise, wenn ein Karriereschritt in Richtung Führung ansteht oder ein Training zur Selbstreflexion geplant ist. So bleibt Diagnostik Hilfe zur Selbst- und Fremdeinschätzung statt Etikett.
Boris benennt außerdem zwei Risiken. Erstens das „Verquatschen“: Weil das Gespräch oft spannend und persönlich ist, dehnt es sich schnell aus. Hier hilft es, klare Zeitfenster zu setzen und Kernhypothesen zu priorisieren. Zweitens gibt es Menschen, die ungern über ihre Persönlichkeit sprechen und deshalb reserviert reagieren. Das ist nicht per se ein Ausschlusskriterium – kann aber je nach Rolle ein Hinweis sein (etwa für stark kundennahe Funktionen). Wichtig bleibt: Einladen statt drängen, Optionen offenhalten und das Gesamtbild betrachten.
Mit einem Persönlichkeitsprofil als Grundlage wird das Zweitgespräch in jedem Fall konkreter und relevanter. Standardfragen verlieren an Bedeutung und stattdessen geht es um echte Situationen: Wo fällt jemandem etwas besonders leicht? Was kostet überdurchschnittlich Energie? Welche Rahmenbedingungen fördern Leistung – und welche bremsen?
Gerade in Zeiten, in denen sich Kandidatinnen mithilfe von Ratgebern und KI sehr gut auf typische Fragen vorbereiten können, sorgt der Feedback-Dialog für Authentizität: Man kann sich schwer auf Aussagen vorbereiten, die das eigene Arbeits- und Erlebensmuster beschreiben – man reagiert, wie man ist.
Umsetzung: Vom Profil bis zur Entscheidung
Wer das Thema in sein Recruiting integrieren möchte, sollte mit dem Anforderungsprofil beginnen und dann mehrere Bausteine kombinieren – halbstrukturiertes Interview, Diagnostik und Arbeitsprobe. HR begleitet dabei eng mit dem Fachbereich, vom Profil bis zur Entscheidung, und achtet darauf, dass Diagnostik Hilfe zur Klärung bleibt, nicht ein Automatismus.
Am Anfang steht also immer ein sauberes Anforderungsprofil – fachlich und persönlich. Erst wenn klar ist, was gesucht wird, macht der Prozess Sinn. In diesem Prozess empfiehlt Boris ein halbstrukturiertes Interview: Ein Leitfaden sorgt für Vergleichbarkeit, aber die Gesprächsführung bleibt situativ, weil Kandidatinnen manche Fragen implizit bereits beantworten. Ergänzend sind Arbeitsproben sehr aussagekräftig – je nach Rolle mit oder ohne Vorbereitungszeit, im Gespräch oder mit kurzer Präsentation.
Nach dem Einstieg ins Unternehmen erfolgt die übliche Feedback-Begleitung (Halbzeit der Probezeit, Probezeitende, laufende 1:1s). Ein formaler Re-Abgleich mit der Diagnostik findet nicht statt. Später kann das Profil als Reflexionsbasis für Entwicklung oder Führungskräftetrainings dienen: Wer führen will, sollte wissen, wie er oder sie wirkt.
Mit Blick auf das richtige Diagnostik-Tool gilt wie immer: vom Bedarf ausgehen, nicht vom Namen. Relevant sind dabei Unternehmensgröße, Internationalität und Zielgruppen (z. B. Blue-Collar vs. akademische Profile). Sinnvoll ist, das Verfahren selbst zu durchlaufen und sich die Ergebnisdarstellung zeigen zu lassen – passt das zu unseren Zielgruppen und zu unserer Kultur?
Auch die Lizenzmodelle spielen eine Rolle: Manche Anbieter arbeiten mit Jahreslizenzen (inklusive unbegrenzter Verfahren), andere mit Pay-per-Use – für KMU mit geringerer Einstellungszahl oft die bessere Wahl.
Top 5 Handlungsempfehlungen für HR
- Sauberes Anforderungsprofil erstellen: Bevor die Suche beginnt, sollte klar definiert sein, welche fachlichen Kompetenzen und welche Persönlichkeitseigenschaften für die Rolle relevant sind.
- Diagnostik zwischen erstem und zweitem Gespräch einsetzen: So werden Ressourcen geschont und es gibt bereits ein Vertrauensverhältnis.
- Kandidatinnen einbinden, nicht nur beurteilen: Das Feedback-Gespräch ist keine Einbahnstraße. Boris empfiehlt, Ergebnisse transparent zu teilen, Widerspruch einzuladen und nach konkreten Beispielen aus dem Alltag der Kandidatinnen zu fragen.
- Führungskräfte eng einbinden: Von der Erstellung des Anforderungsprofils bis zur finalen Entscheidung sollten Führungskräfte aktiv beteiligt werden. HR hat hier die Rolle, den Prozess zu moderieren und darauf zu achten, dass Kriterien konsistent angewendet werden.
- Diagnostik auch später nutzen: Profile können bei späteren Entwicklungsschritten oder Beförderungen erneut herangezogen werden.